Noch sieben Wochen bis zu den Sommerferien, bis zu den Zeugnissen, bis zu der Zeit, die wie keine andere im Jahr fürs Reisen mit der Familie und für Mobilität steht. Erwachsene erhalten bis dahin vermutlich ein Impfangebot. Kinder und Jugendliche, von denen zu Beginn der Pandemie Solidarität gegenüber den älteren Generationen erwartet wurde, erhalten nichts. Sie müssen weiter auf tragfähige Konzepte für ein normales Leben warten. Als Träger des Blogs www.soziales-bonn.de möchten wir uns damit nicht abfinden. Deshalb geben wir dem Thema Raum in der Öffentlichkeit und bringen konkrete Vorschläge und Konzepte ein. Im Hintergrundgespräch mit Kinder- und Jugendärztin Ingeborg Schwalber-Schiffmann und der Leiterin des Familienkreises Anja Henkel besprechen Vertreterinnen und Vertreter von Soziales Bonn den Status quo.
Teil 1 Die Corona-Krise als Verstärker
Diakonie-Geschäftsführer Ulrich Hamacher fragt im Gespräch nach praktischen Lösungen zum Umgang mit versäumten Unterrichtsinhalten.
Jean-Pierre Schneider, Direktor des Caritasverband Bonn, beschreibt ein Teilhabeproblem bei vielen Familien: Das fange mit der technischen Ausstattung an, gehe über die Größe der privaten Räume und betreffe auch die Anspannung etwa durch Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit der Eltern. Der Stressfaktor sei hoch, die Probleme seien vielfältig. „Dem müssen wir begegnen“, so Schneider.
Anja Henkel konnte beobachten, dass Familien, die schon vorher benachteiligt waren, jetzt verstärkt von den Folgen der Krise betroffen sind.
Susanne Seichter, Geschäftsführerin des Paritätischen, sieht im Fachkräftemangel einen relevanten Faktor. Um den Folgen der Pandemie zu begegnen, brauche es geschultes Personal. Das wussten wir schon vorher, aber jetzt werde es umso bedeutender.
Bernhard von Grünberg vom Mieterbund Bonn und Franz-Josef Windisch von der AWO Bonn/Rhein-Sieg sehen eine Chance darin, möglichst viele Angebote nach draußen zu verlagern. Da, wo es möglich ist. Allerdings betont Windisch vor allem wegen der Kinder in Sorge zu sein, die im System aktuell nicht vorkommen. Trotz aller Bemühungen, werden manche Kinder nicht erreicht.
Teil 2 Die Folgen sind schon jetzt zu spüren
Kinder- und Jugendärztin Ingeborg Schwalber-Schiffmann kann in ihrem Praxisalltag schon die Folgen der Pandemie erkennen: „Quer durch die Gesellschaft treten bei den Kindern mehr körperliche Auffälligkeiten auf wie etwa Bauchschmerzen, Schlafstörungen oder psychische Störungen. Schwalber-Schiffmann sieht ein großes Bemühen bei Schule und Kitas, aber ihr fehlen Konzepte für das neue Schuljahr.
Einig sind sich alle Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer, dass die Stadtteile besondere Berücksichtigung brauchten, in denen mehr Menschen leben, die finanziell benachteiligt sind. Aspekte sind hier die Informationen, die zugänglich zu machen sind, außerdem konkrete Test- und Impfangebote.
Anja Henkel wünscht sich eine Ansprache an Eltern und ihre Kinder. Sie zitiert einen Leserbrief aus dem General Anzeiger unter der Überschrift „Ein Schlag ins Gesicht aller Eltern“, als Beispiel dafür, dass Eltern sich nicht gesehen fühlen. Das gehöre gewürdigt. Auch mit konkreten Leistungen.
Teil 3 Die Informationen müssen alle erreichen
Wie wichtig Sprache sei, führt Ingeborg Schwalber-Schiffmann aus. Es brauche Aufklärung, damit zum Beispiel Ängste gegenüber Impfungen abgebaut werden können. Ulrich Hamacher bestätigt diesen Gedanken auch hinsichtlich der Gruppe der Geflüchteten, die aktuell gar nicht besonders berücksichtigt würden. Susanne Seichter gibt zu bedenken, dass es hier mehr braucht als einen Flyer in der Herkunftssprache. Anja Henkel sieht eine Chance in der nun verstärkten Digitalisierung. Die kann eine Chance für die Menschen sein, niederschwellige Kontakte zu ermöglichen. Susanne Bauer-Jautz, Leiterin der Verbraucherzentrale, weiß aber aus ihrer Erfahrung, dass telefonische Kontakte hier keine Lösung sind, weil die Sprachbarriere nicht kompensiert werden kann. Digitalisierung müsse mehr sein, als die Kontaktaufnahme per Handytelefonie oder Messenger. Zudem informiert Bauer-Jautz über finanzielle Risiken, die durch eine verstärkte Handy- bzw. Internetnutzung zu beachten sind; z.B. In-App-Käufe, die Jugendliche tätigen, und die erst auffallen, wenn die Rechnung kommt. Jean-Pierre Schneider betonte abschließend, dass der Informationsbedarf alle betreffe. Allein rund um das Thema Impfungen gebe es Unsicherheiten quer durch die gesamte Gesellschaft und nicht ausschließlich unter Migrantinnen und Migranten.
Teil 4: Information, Vernetzung, interdisziplinäres Arbeiten
Jean-Pierre Schneider schaute außerdem auf die Älteren, die Jugendlichen, die während der Pandemie ihren Schulabschluss gemacht haben und nun Probleme vor dem Problem stehen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Auch in einer schwierigen Situation sind die, die ein Studium begonnen haben und keinem Nebenjob nachgehen können, um ihr Studium zu finanzieren. Die Bandbreite der Themen ist also groß.
Information, Aufklärung, Kommunikation stellen also einen Teil der Lösung dar. Außerdem sollten Multiplikator*innen, die Erzieher*innen und Lehrer*innen, geschult werden, um Kindern und Jugendlichen in der Krise erfolgreich helfen zu können, sagt die Kinderärztin in der Runde. Noch besser wäre aus Sicht von Anja Henkel ein interdisziplinärer Ansatz. Medizinische Fachkräfte in Schule und Kitas, die ansprechbar sind und mit ihrem Know-how Themen wie die gesundheitliche Entwicklung oder eben konkret in der Pandemie Themen wie Testung, Hygiene oder Impfungen abdecken. Es gebe Erfahrungen aus der Arbeit der Familienhebammen, die z.B. erfolgreich Sprechstunden in Familienzentren anbieten. Diesen Wunsch unterstützte auch Ingeborg Schwalber-Schiffmann als mittelfristiges Ziel. Zudem hofft sie auf einen Runden Tisch mit Vertreter*innen der Schulleitungen, der Schülerschaft, Mitarbeitenden der Stadtverwaltung und Elternvertreter*innen, der sich schon jetzt Gedanken über die Gestaltung des nächsten Schuljahres mache.