Verschiedene Blicke auf Corona und die Folgen
Wenn Peter Kox in diesen Tagen auf Bonn schaut, ahnt er manchmal nichts Gutes: „Ein Schleier legt sich über die Stadt“, beschreibt er das Gefühl. Der Schleier hat sich zwar nicht ganz gesenkt und gibt noch Durchblicke frei, „aber was wird am Ende des Tages sein?“, fragt sich der SPD-Sozialpolitiker und Geschäftsführer des Mieterbundes Bonn/Rhein-Sieg/Ahr e. V.
Denn noch komme die Stadt gut durch die Pandemie, meint der 42-Jährige und bezieht diese Wahrnehmung vor allem auf seine Tätigkeit beim Mieterbund. Bei seinen Kolleginnen und Kollegen in der Rechtsberatung sei das Thema Corona und die speziellen Folgen für Mieter bisher nur wenig angekommen. Noch suche kaum ein Vereinsmitglied Rat, weil sein Vermieter durch Corona verursachte Mietschulden nicht stunden oder gar die Wohnung kündigen wolle. Kox hat aber die große Befürchtung, dass „der große Hammer rausgeholt“, Schulden zurückverlangt und Kündigungen ausgesprochen werden, wenn die Pandemie überwunden ist. „Und dann?“
Der Arbeitsmarkt
Auch in der Sozialpolitik hätten sich bisher viele Probleme „zurechtgeruckelt“, sagt Kox, doch die Arbeitslosigkeit in der Stadt steige: 14.803 Menschen waren im April ohne Arbeit, 807 mehr als im Vormonat und 3.113 mehr als im Februar. Die Arbeitslosenquote lag im April unverändert bei 8 Prozent, im Februar waren es 1,5 Prozentpunkte weniger. Betroffen ist vor allem das Dienstleistungsgewerbe, eine der Leitbranchen in der Region. Stand Dezember hatten nach den Zahlen der Agentur für Arbeit Bonn/Rhein-Sieg über 2.200 Betriebe mit rund 18.000 Beschäftigten Kurzarbeit angemeldet, allein aus der Gastronomie 405 Betriebe mit 2107 Mitarbeitenden, aus der Kunst- und Unterhaltungsbranche 299 Betriebe. Da zu erwarten sei, dass aus Kurzarbeit Langzeitarbeitslosigkeit werde, „kommt sozialpolitisch einiges auf uns zu“, meint Kox.
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln bestätigt die Warnung des Bonners: „Das Problem für den deutschen Arbeitsmarkt ist nicht, dass die Unternehmen Mitarbeiter entlassen, sondern dass sie kaum noch Arbeitskräfte suchen“, meldet das IW im März. Vor allem für die unter 35-Jährigen habe sich die Lage verschärft. „Die Langzeitarbeitslosen kommen erst noch“, sagt IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer.
Konflikte in Familien
Eva-Maria Schulz hat einen unmittelbaren Blick auf die Corona-Folgen. Sie ist Einrichtungsleiterin bei der Ambulanten Jugendhilfe des Diakonischen Werks Bonn und Region und kümmert sich mit ihrem Team um junge Menschen mit Behinderungen und Einschränkungen, die individuell zu Hause, in der Schule oder am Arbeitsplatz betreut werden. Betroffen sind in der Regel auch die Angehörigen, so dass sie ebenfalls betreut werden. Zurzeit nutzen 25 Familien und genauso viele junge Erwachsene das Angebot.
Schulz hört bei ihnen von großen Sorgen: Eltern erzählen von psychischen Belastungen, von Existenznöten. Sie sind in engen Wohnungen überfordert mit dem Distanzunterricht, weil man sich nicht aus dem Weg gehen kann; sie sind oft der deutschen Sprache nicht mächtig, um ihren Kinder bei den Lernprogrammen helfen zu können. Konflikte brechen aus, weil das Geld für einen PC fehlt, der fürs Homeschooling dringend gebraucht wird. Die Kinder können sich nicht austoben, weil sie nicht in ihre Sportvereine gehen dürfen. Eva-Maria Schulz beobachtet „vermehrt Aggressionen bei Kindern, die sich dann gefrustet zurückziehen in die Selbstisolation“. Es gebe allerdings auch positive Rückmeldungen: Manche Schülerinnen und Schüler seien froh, dass sie Fernunterricht haben. Denn dabei könnten sie ihr Potenzial ausschöpfen, weil sie daheim sicher seien und in der Klasse nicht gemobbt würden. Jungen Erwachsenen, die bereits in einer eigenen kleinen Wohnung oder in einer Wohngruppe leben, fehle in diesen Zeiten die Tagesstruktur. Weil kein Schulunterricht stattfinde, gebe es keinen Grund mehr, früh aufzustehen. Schulz: „Alles, was wir lange antrainiert haben, wie Haushaltsführung oder Finanzplanung, ist weg.“
Am Ende ist womöglich der Job fort. Ein Jobverlust, weiß die Aktion Mensch, treffe Behinderte ungleich härter als Nichtbehinderte. „Haben sie erstmal ihren Arbeitsplatz verloren, finden sie viel schwerer in den ersten Arbeitsmarkt zurück als Menschen ohne Behinderung“, heißt es bei der Bonner Organisation.
Die Ambulante Jugendhilfe der Diakonie versucht gegenzusteuern, indem sie ihren Schützlingen kleine Aufgaben gibt, Kurse nach draußen verlegt, Praktika an ein bis zwei Tagen in der Woche organisiert oder mit den jungen Menschen am Handy übt, für einen geschäftlichen oder behördlichen Anlass ein Telefongespräch zu führen, das nicht in den jugendtypischen Slang kippt. Informationen unter www.diakonie-bonn.de.
Kontakt an der Haustür
Update, die Fachstelle für Suchtprävention für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von Caritas und Diakonie, berichtet von ähnlichen Erfahrungen. Das Team hält nach Angaben von Einrichtungsleiterin Marion Ammelung seit Beginn der Corona-Krise mithilfe von gespendeten sogenannten Beschäftigungs- und Unterstützungspaketen weiterhin wöchentlichen Kontakt zu 70 Kindern und Jugendlichen und ihren Familien. Auch gab es Lebensmittelpakete mit Rezepten als Ausgleich für die fehlenden Mittagessen in den Schulen. Ammelung: „Bei der Übergabe der Tüten entsteht so zumindest ein kurzer Kontakt.“ (Weitere Infos unter 0228 / 6885880)
Wacher Geist gebraucht
Wer lüftet den aus Furcht und Sorge gewebten Schleier? Wer spendet Trost und Abwechslung in unsicheren Zeiten? Vielleicht ein Theaterabend? Ein Kinobesuch? Ein Konzert? Die Kultur könnte der Kitt sein im sozialen Leben, könnte Sinnstifterin und Anregerin sein – darf aber nicht. Frank Oppermann, der Intendant des Kleinen Theaters, hofft, die Spielzeit im Mai eröffnen zu können. Für die Bühne im idyllischen Stadtpark von Bad Godesberg geht es nach weit mehr als 200 Tagen der Schließung um alles oder nichts, um „Lockdown oder Knockdown“, wie Oppermann es formuliert.
Seine Kollegen helfen sich mit Stream-Angeboten. Das Theater Bonn zeigt eine Inszenierung wie jüngst „Prinzessinnendramen“ von Elfriede Jelinek als Film, um überhaupt auf sich aufmerksam zu machen. Das Junge Theater Bonn hat unter anderem „Die unendliche Geschichte“ nach dem Roman von Michael Ende in den digitalen Spielplan aufgenommen. Auch das Kulturzentrum Brotfabrik setzt auf solche Formate. Das Theater aber ist eine analoge Kunst, die vom unmittelbaren Erleben und vom Applaus eines aufmerksamen Publikums lebt. „Kultur braucht einen wachen Geist. Zum Beispiel Ihren! Gerade jetzt!“ hat Generalintendant Bernhard Helmich plakatieren lassen – es klingt ein wenig verzweifelt.
Gedenkort
In diesen Tagen gehe es darum, „dass wir nicht nur auf die große Krise sehen“, sagte das katholische Stadtdechant Dr. Wolfgang Picken in der Remigiuskirche bei der Einweihung einer Gedenkstätte für die mehr als 200 Corona-Toten in Bonn, die er gemeinsam mit dem evangelischen Superintendenten Dietmar Pistorius eröffnete. „Als Christen sehen wir immer auf den einzelnen Menschen.“ Daher gedenke man der an Corona Verstorbenen und deren Angehörigen. „Diese Krise hat Namen. Wir schaffen ihnen einen Ort, an dem sie nicht vergessen werden“, so Picken.
Unter dem Schleier über Bonn lugen Kreuze hervor, über 200.