„Wir gehen vor die Hunde“

14.04.2021 von Dieter Brockschnieder, Journalist
Harte Zeiten für Jugendliche

Wie sich Corona auf Kinder, Jugendliche und die Psyche auswirkt

Kurz nach Ostern in Bad Godesberg: Ein Mann steht im Oneworld-Café und putzt die Scheiben. Der Blick nach innen zeigt: nichts los im Jugendtreff. Seit Dezember ist die Einrichtung im Hansa-Haus komplett geschlossen, Präsenzangebote seien nicht mehr möglich, erklärt der Pädagogische Leiter Carsten Gebauer und sagt zur Begründung nur ein Wort: Coronaschutzverordnung.
2016 haben die Evangelische Jugendhilfe Godesheim und das CJG Hermann-Josef-Haus in einem ehemaligen Ladenlokal an der Alten Bahnhofstraße 21 das Oneworld-Café eröffnet. Der Name klingt wie eine große Umarmung. Er war bewusst gewählt worden, weil damals nach Raubüberfällen und Einbrüchen in der Innenstadt, nach Schlägereien im Kurpark und nach dem gewaltsamen Tod des Schülers Niklas P. hinter dem Bahnhof über „Zwei Welten“ in Bad Godesberg – hier die Alteingesessenen, dort die Zugezogenen, hier die Bessergestellten, dort die Migranten – gesprochen wurde. Oneworld setzt andere Akzente: Das Café will Jugendlichen einen Ort bieten, in dem alle willkommen sind, heißt es auf Internetseite www.oneworld-go.de.

Als Fußstreife zu Jugendlichen

Corona aber hat diesen Auftrag vorerst gestoppt, denn es darf keiner kommen. „Vor der Pandemie hatten wir im Schnitt 22 Besuchende am Tag“, sagt Gebauer. Dazu die Jugendlichen, mit denen in der sogenannten hinausreichenden Arbeit, also an ihren Treffpunkten, Kontakt hergestellt worden war. Das Projektteam versucht ihn jetzt zu halten: An vier Tagen in der Woche ist es an den gewohnten Öffnungszeiten des Cafés per Handy, Mail, Skype oder Videocall zu erreichen. Auf Instagram werden Mit- und Nachmachaktionen sowie Updates zu den Coronaregeln gepostet. Schließlich „sind wir zu Fuß unterwegs“, erzählt Gebauer. Zu zweit gehen sie an fünf Tagen pro Woche durch die Innenstadt, die Rheinaue, den Panoramapark und durch Rüngsdorf. Bei diesen Streifengängen erfahren er und seine Kolleginnen und Kollegen von den Sorgen ihrer Schützlinge. Das sind: Ärger Zuhause mit der Familie, nur wenige soziale Kontakte. Und wer gerade auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder Studienplatz ist, äußert Angst vor der Zukunft. Gebauer: „In den letzten Wochen hören wir zunehmend von Unverständnis über das politische Krisenmanagement und das Hin und Her bei den Coronaschutzmaßnahmen“.

Ein Jahr geraubt

Die Mottowoche vor dem Abitur, der Abiball auf der Godesburg oder im Brückenforum mit schicker Kleidung, Musik und Tanz bis in den frühen Morgen – das sind Ereignisse wie aus einer anderen Zeit, die sich nicht mehr nachholen lassen. „Mir wurde ein Jahr geraubt“, drücken viele Jugendliche ihren Frust aus. Oder um es mit einer Fachfrau zu sagen: „Die Jugend wurde komplett im Regen stehen gelassen“, konstatiert die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder. Wächst da eine verlorene Generation heran? Das Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold spricht schon von der „Generation Corona-Kokon“, weil sie gezwungen werde, sich wie in einen Kokon zurückzuziehen und in der jugendtypischen Entwicklung gehemmt werde. Sie können ihre Grenzen nicht austesten, vor dem Studium zum Praktikum nicht ins Ausland fahren, kein work & travel, keine Beziehungen knüpfen, Party machen: tote Hose.
Gefühle benennen
„Wir gehen vor die Hunde“, fasst der 25-jährige Koch Leon Ehrenberg die Situation seiner Altersgenossen in einem Video des Evangelischen Jugendwerks Sieg-Rhein-Bonn zusammen. Er ist wegen Corona in Kurzarbeit und muss mit kleinem Budget zurechtkommen. Das treibt ihn um, und er spricht diese Angst offen aus. Von der Kölner Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf kommt Zustimmung. Sie sagte im Deutschlandfunk: „Die Sorgen auf mehrere Schultern zu verteilen, ist der erste Schritt“. Wie man dann damit umgehe, sei eine Frage des Naturells. Generell sei es gut, die Gefühle auch zu benennen.

Mehr Anträge auf Psychotherapie

Raffaufs Berufsstand ist zurzeit besonders gefragt: Nach Angaben des „Barmer Arztreports 2021“ der Krankenkasse Barmer gab es im vierten Quartal 2020 rekordverdächtige 12,6 Prozent mehr Anträge auf eine Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen.
Die Kinder trifft es wahrscheinlich besonders hart: Kita zu, Schule zu, Bolzplatz zu, die Wohnung zu eng – das führt zu Isolation. Kognitive und motorische Fähigkeiten werden eingeschränkt, auf der anderen Seite sind die Kinder hyperaktiv. Was hilft? Experten raten den Eltern, in solchen Situationen für ihre
Kinder da zu sein, ihnen Strukturen zu geben wie feste Essens- und Schlafenszeiten. „Kein Kind allein lassen, insbesondere in Zeiten von Corona“, hat die Evangelische Beratungsstelle Bonn als Losung ausgegeben. Sie verweist auf vielfältige Hilfsmöglichkeiten der Kirchen in der Region. Im Kulturcafé zum Beispiel wird Besuchern Einzelberatung per Instagram angeboten. Die Stadt Bonn hat unter www.bonn.de eine lange Liste von Hilfestellungen für Eltern, Kinder und Jugendliche veröffentlicht. Die Familien-Beratungsstelle der Bonner Caritas hat jüngst eine eigene Hotline gestartet. Unter der Telefonnummer 0152 3769 2632 können Jugendliche und junge Erwachsene montags und donnerstags zwischen 16 und 18 Uhr anrufen, um mit jemandem über Ängste und Nöte zu reden oder auch einfach mal Gedanken loszuwerden, die sie in Corona-Zeiten besonders beschäftigen. Persönliche Beratungstermine sind online oder beim Spaziergang im Freien bei der Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder möglich. Kontakt: (0228) 223088
Auch die Stadtpastoral am Bonner Münster lädt zum Gespräch mit einer Psychologin und Psychotherapeutin. Es sei anonym, kostenfrei, und anders als bei den meisten Beratungsstellen gebe es keine langen Wartezeiten, wirbt das Münster. Wer über seine Sorgen und Nöte sprechen möchte, kann sich im Foyer des Münster-Carrés einen Termin geben lassen. Telefon: (0228) 985 88 50. Alternativ steht das Team der evangelischen Beratungsstelle für Jugendliche und Familien parat, erreichbar unter (0228) 6880150.

Zunahme an Depressionen Das Gefühl, hängengelassen zu werden in der Pandemie, ist indes nicht nur bei Heranwachsenden bemerkbar. Der zweite Lockdown schlägt deutlich mehr Menschen auf die Psyche als der erste im vergangenen Jahr, als die Krise noch neu war. Angst vor Einsamkeit, Angst vor der Zukunft, eine Zunahme der Depression – das sind die drei am häufigsten genannten Antworten auf die Frage, wie sich Corona auf die Seele auswirkt. Die Deutsche DepressionsLiga (DDL), eine in Bonn ansässige bundesweite Organisation von Betroffenen (Schirmherr ist der Komiker und Autor Torsten Sträter), hat ihre 900 Mitglieder befragt, 252 haben nach Angaben der DDL an der Erhebung teilgenommen. Die Patienten sehen in den Lockdowns allerdings auch Positives, wie etwa eine Entschleunigung des Alltags. Viele wünschten sich nach dem Ende der Pandemie ein Leben frei vom Leistungsdruck. Offene Kirchen Ein früher Morgen in der Bonner Innenstadt. Es liegt eine merkwürdige Ruhe über der sonst so quirligen City. Die Obst- und Gemüsehändler auf dem Marktplatz haben ihre Stände bereits geöffnet, aber noch preist niemand lauthals seine Waren an. Die Einzelhandelsgeschäfte sind zu, ein paar Menschen hasten durch die Fußgängerzone, auf dem Weg zum Bahnhof oder zu ihren Arbeitsstätten. Ein Mann biegt in der Brüdergasse ab in die Remigiuskirche, in der eine Putzfrau werkelt. Vor dem Bild der Muttergottes von Kevelaer rechts vom Portal brennen ein paar Kerzen, auf einem Pult im Mittelgang ist die Lesung des Vortages aufgeschlagen: „Jeder, der anruft den Namen des Herrn, wird gerettet“ steht dort geschrieben. Wer glaubt, mag in diesem Satz Trost finden. Darum auch haben die meisten katholischen und evangelischen Kirchen in Bonn geöffnet zum Gebet, zur Andacht oder zu einem Augenblick der Stille.

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